INNERE SCHÖNHEIT

Abseits der Menschen stand ein alter, kranker Bettler, der nur einmal sehen wollte, von wem da die Rede war, aber er hielt sich klein und unauffällig im Hintergrund. Doch Jesus bahnte sich einen Weg durch die Menschen, die entsetzt dreinblickten, als sie erkannten, wohin er wollte. Alles verstummte, als sie miteinander sprachen, der Gesegnete und der Bettler. Der alte Mann begann zu weinen. Doch dann, je länger der Mann zu ihm sprach, desto mehr straffte sich die gebeugte, ausgemergelte Gestalt, desto mehr begann sein Gesicht zu leuchten, wieder lebendig zu werden, begannen die Augen zu strahlen, bis er überhaupt nicht mehr aussah wie ein Bettler, sondern wie einer, der sich verkleidet hatte.

Es ergießt sich über die Theke, hauchdünner Stoff, Spinnweben, glitzernd wie Tau. Als ich es hochhebe, fällt es lang und locker bis auf meine Füße und ist so weiß wie das erste Morgengrauen. Das hübscheste Kleid, das ich jemals gesehen habe. Ich lege es wieder hin. »Ich kann es nicht tragen», sage ich, »es ist zu ausgefallen. Ein Kleid für eine junge Frau.« »Nein«, erwidert er. »Ein Kleid für eine schöne Frau. Und das sind Sie.« Er streicht mit einem Flügelspitzenfinger über meine Wange. Nein. »So sehen sie doch«, schreie ich, »Ich bin hässlich. Hässlich und alt. Es wäre blanker Hohn, wenn ich dieses Kleid tragen würde. Und Sie und ich zusammen, das ist ebenfalls blanker Hohn.«

»Schhhh«, erwidert er. Dann umschließen mich seine Arme, seine Lippen pressen sich beruhigend auf mein Haar. Mein Gesicht liegt an seiner Brust, an seinem weichen, weißen Hemd, das so rein duftet wie der Wind. Darunter spüre ich die Wärme seiner Haut, wie poliertes Seidenholz. Ich lächle durch feuchte Wimpern hindurch, als mich der Duft seiner Haut erfüllt, ich seinen warmen Atem auf meinen Wimpern spüre. Meine Knochen schmelzen in dem Verlangen dahin, immer so gehalten zu werden. Seine Daumen reiben sanft über meine Schulterknochen. »Tilo. Liebste Tilo.« Mein Amerikaner, in jeder Hinsicht formst du mich neu.

»Zieh das Kleid an«, sagt er und legt eine zärtliche Hand über meinen Mund, um meine Proteste zu bremsen. »Ich weiß, dass dieser Körper nicht wirklich der deine ist.« Meine Lippen würden am liebsten länger an den festen Kurven seiner Finger ruhen. Aber ich weiche zurück. »Woher weißt du das? Du, der du selbst gesagt hast, es sei nicht leicht, das eigene Selbst zu erkennen.« Er lächelt. »Vielleicht durchschauen wir den anderen besser, als wir uns selbst durchschauen. Ich werde Dir alles erklären. Heute noch. An einem passenden Ort, wo Nebel und Luft eins werden mit dem Ozean, wo es einfacher ist, zu gestehen, und vielleicht auch einfacher, zu vergeben«.